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Foto: Martin Castillo Photography

Oft bekomme ich zu hören: “Fotografen sehen die Welt ja nur durch den Sucher ihres Fotoapparates!”

Diese Aussage lehne ich für meine Person ab. Wie oft schleppte ich die Kamera schon durch die Gegend ohne auch nur einmal durch den Sucher gesehen, geschweige denn den Finger krumm gemacht zu haben. Für eine Fotografie muss ich einfach “mein Bild” sehen. Bis dieser Fall endlich eintritt, schaue ich mir meine Umwelt sehr viel intensiver an als das ohne Fotoapparat je geschehen wäre. Dies gelingt mir aber nur, wenn ich mir die Freiheit gönnen kann, innezuhalten. Eine meiner Lieblingssängerinnen, Ulla Meinecke, bediente sich in einem ihrer Songs der Metapher “Schlendern ist Luxus”. Sobald ich mir diesen Luxus erlauben kann, mich dem Zustand des “Schlenderns” nähere, stellen sich die Bilder wie von selber ein. Manchmal ertappe ich mich aber auch dabei, wie ich ein Bild aufnehme ohne meine Kamera dabei zu haben.

Ein Maler setzt einen jungfräulichen Untergrund auf seine Staffelei und entwickelt sein Bild zum Beispiel nach den Regeln der Flächen- und Farbgestaltung, setzt die Perspektive, spielt mit Licht, Schatten und Fluchtlinien. Oder er folgt seinen eigenen Vorstellungen und bricht bewusst mit allgemein anerkannten Regeln der Ästhetik oder Harmonie. Sein Spielfeld ist so groß wie der Vorrat an Ideen, an Bildern in seinem Kopf.

Der Fotograf steht nie vor einem weißen Blatt, einer jungfräulichen Leinwand. Er muss das, was er in seinem Umfeld vorfindet, mit seiner Vorstellung eines stimmigen Bildes zur Deckung bringen. Er muss Farbe, Fläche, Linie, Licht und Schatten, so wie sie gegeben sind, zu einem aussagekräftigen Bild komponieren.

Dieses Bild kann zum Nachdenken anregen. Vielleicht hat es im täglich Gesehenen einen Blickwinkel eröffnet, den der Passant schon seit Jahren nicht mehr wahrnimmt. Alleine die Wahl des Bildausschnittes oder des Blickwinkels können aus einer alltäglichen Ansicht ein “Bild” zaubern. Darüber hinaus stehen aber dem Fotografen seit Erfindung der “Photographischen Kunst” fast unbegrenzte Möglichkeiten zur Verfügung, um sein “Bild im Kopf” für den Betrachter sichtbar zu machen. Nutzte man hierzu bisher die “chemische” Dunkelkammer (und wird sie auch weiterhin nutzen), wird diese heute mehr und mehr durch die “elektronische” abgelöst.

Beiden Techniken gleich ist, dass der Mensch hinter der Kamera sein Handwerk verstehen und eine Vorstellung davon haben muss, welche Aussage er dem betrachtenden Menschen vor dem Bild vermitteln will. Um sich mit den Mitteln der Bildgestaltung auszudrücken, stehen dem Fotografen hierzu nun die gleichen Freiheiten wie dem Maler offen. Nur die Technik ist eine andere, die Spielregeln sind die gleichen.

Plötzlich wird die Farbe zum Bildinhalt, Linien dominieren. Solarisation und Farbumkehr betonen die Besonderheit eines alltäglichen Gegenstandes. Sie bringen den Betrachter dazu, seine Fantasie spielen zu lassen und sich mit den “Originalen” zu beschäftigen.

Wird in der Regel dem Inhalt eines Weinglases – mit Recht – mehr Aufmerksamkeit geschenkt als seinem Schatten auf dem Wirtshaustisch (siehe “Fotografik-Grafikfoto”), kehrt sich das mit einfachen Kunstgriffen, die so schon in den Anfängen der Fotografie genutzt wurden, um. Man schenkt Konturen, Strukturen und Farben seine Aufmerksamkeit. Eine fingernagelgroße Ahornblüte wird zum Blickfang. Im Frühling schlurfen wir, ohne auch nur einen Gedanken zu verschwenden, durch tausende ihrer Schwestern.

Alle meine Bilder sollen eines erreichen: das Augenmerk auf unsere Umwelt lenken; unseren Blick für die alltäglichen Schönheiten, Hässlichkeiten, Banalitäten und Einzigartigkeiten schärfen, kurz: uns auffordern mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.

Auf einer meiner Grönlandtouren hatte ich mir folgendes Motto in mein Tagebuch geschrieben:

Vielleicht sehen wir am Anfang unseres Werdens
die Welt und den ihr innewohnenden Sinn wie einen Scherenschnitt.
Mit den Jahren können wir mehr und mehr unterscheiden und
irgendwann gleicht unser Bild der Welt einem
fein nuancierten schwarz-weiß Bild.

Wann beginnen wir Farbe zu sehen?
Und was kommt danach?

Reinhold SchultheißReinhold Shultheiss